Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Prof. Dr. Martin Walter

Prof. Dr. Martin Walter, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Jena, beschäftigt sich in seinem Gastbeitrag mit der Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit der medizinischen Fachgesellschaften zur Bündelung von Expertisen in Versorgung, Forschung und Weiterbildung im Rahmen des Post-COVID-Syndroms (PCS).

Veröffentlicht 08.09.2023

Portraitfoto Prof. Martin Walter

© ZI | Daniel Lukac

PCS – eine interdisziplinäre Erkrankung

Bei über 100 Symptomen im Rahmen des Post-COVID-Syndroms (PCS), die nahezu alle Körperfunktionen betreffen können, sind differierende Ansichten verschiedener Fachgesellschaften insbesondere über die Genese und Behandlung nicht überraschend. 

Es gibt in einzelnen Disziplinen durchaus vorbestehende Erfahrungen mit postinfektiösen Folgeerkrankungen sowie mit der Behandlung einzelner PCS-typischer Symptome. Anstelle der primären Zuständigkeit einer Fachdisziplin sind aber ein gemeinsamer Erkenntnisgewinn sowie eine Zusammenarbeit im Rahmen der eigenen Expertise wichtig.

Diese muss über den Ausschluss bekannter Diagnosen im eigenen Fach hinausgehen – auch, damit unsere Patientinnen und Patienten nicht allein und mit dem Eindruck zurückgelassen werden, dass „keiner für sie zuständig ist“. Die Aufgabe einer geordneten interdisziplinären Weiterentwicklung besteht daher darin, bislang nur unzureichend vernetztes Fachwissen einzelner Disziplinen zu vereinen. Vorwissen zu vorbestehenden postinfektiösen Syndromen wie zum Beispiel dem Post-Sepsis-Syndrom oder auch zu ME/CFS muss bestmöglich in den Kontext der explodierenden aktuellen Datenlage integriert werden.

Intersektorale Zusammenarbeit stärken

Die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, dass intersektorale Netzwerke funktionieren. Patientinnen und Patienten benötigen in unterschiedlichen Phasen der Erkrankung eine umfassende, zum Teil hochspezialisierte Diagnostik und die Versorgung konkreter Symptome. Schon aufgrund fehlender kausaler Therapien muss aber auch die längerfristige und niedrigschwellige Begleitung gesichert sein. Die intersektorale Zusammenarbeit muss daher Kapazitäten und Kompetenzen der beteiligten Akteure auf die Anforderungen durch PCS abstimmen und entsprechend neue Diagnose- und Behandlungspfade entwickeln. 

Auch muss das Zusammenspiel von Krankenversorgung, Rehabilitation und beruflicher Wiedereingliederung bei PCS ärztlicherseits professionell entwickelt und begleitet werden. In diesem Bereich liegt aktuell ein großes Potenzial zur Verbesserung der Teilhabe von PCS-Patientinnen und -Patienten, das bislang kaum genutzt wird. Dieser Prozess bedarf einer strukturierten Unterstützung sowie einer hochwertigen Begleitforschung.

Zur Vermeidung von Chronifizierung und langfristiger Erwerbsunfähigkeit müssen Kommunikations- und Wissenslücken geschlossen werden, auch durch entsprechende Weiterbildungsstandards. Dies kann insbesondere bei der hausärztlichen Betreuung inklusive der Pädiatrie eine möglichst frühe Diagnostik und Intervention verbessern. 

Bündelung von Expertisen in Versorgung, Forschung und Weiterbildung

Diese Bündelung interdisziplinärer Erkenntnisse und deren schnelle Weitergabe werden auf eine regional verfügbare, vernetzte Kompetenz sowie etablierte Weiterbildungsstrukturen angewiesen sein. Regionale Kompetenzzentren schaffen durch eine Bündelung aller notwendigen Fachdisziplinen und Untersuchungs- wie Behandlungsmethoden eine zentrale Voraussetzung dafür, dass in Deutschland eine flächendeckend hochwertige Versorgung von PCS-Patientinnen und -Patienten gewährleistet werden kann.

Ärztlich geführte Zentren können dann als Akteure eines regionalen Versorgungskonzepts aktiv werden, welches medizinische wie soziale Bereiche vereint, wie zum Beispiel bei der beruflichen Teilhabe. Durch eine differenzierte Binnenstruktur können interdisziplinär, intersektoral und telemedizinisch etablierte regionale PCS-Kompetenzzentren regionale Versorgungsansätze steuern und weiterentwickeln.

Bestmögliche Effizienz durch überregionale Abstimmung

Idealerweise werden regionale Versorgungskonzepte um einzelne PCS-Kompetenzzentren und mit einem Blick auf eine deutschlandweite Zusammenarbeit entwickelt. Die schnelle Weitergabe von veränderlichen Erkenntnisständen über Strukturen mit vergleichbar hohem akademischen Professionalisierungsgrad stellt gleichsam eine Notwendigkeit wie auch eine einzigartige Chance in der Fortentwicklung auf dem Gebiet des PCS dar. Eine Vernetzung von Zentren erlaubt dann durch Harmonisierung auch eine flächendeckende Versorgung auf höchstmöglichem Standard.

Individuelle Schwerpunkte von kooperierenden Netzwerkpartnern adressieren hierbei synergistisch einen gewaltigen Forschungsbedarf bei begrenzten menschlichen und finanziellen Ressourcen. Die aktuell einzigartige Möglichkeit der Verlaufsuntersuchung von vielen erstmals erkrankten Patientinnen und Patienten wird hierbei auch wichtige Erkenntnisse über weitere postinfektiöse Folgeerkrankungen liefern können. Ein deutschlandweites Versorgungs- und Forschungsnetzwerk von regionalen PCS-Kompetenzzentren muss sowohl Krankheitsursachen und konkrete Mechanismen als auch aktuell bereits vorhandene Versorgungsmöglichkeiten koordiniert erforschen. Lokale Zentren sollten daher eine wissenschaftliche Exzellenz in Grundlagen, Diagnostik und Interventionen mit Erfahrung in der klinischen Versorgung vereinen und zu einer Vernetzung mit weiteren nationalen Akteuren, zum Beispiel in BMBF-Gesundheitszentren oder weiteren außeruniversitären Forschungseinrichtungen, beitragen.

Patient and Public Involvement (PPI)

Eine wichtige Aufgabe einer zukünftigen Struktur wird die Förderung des Einbezugs aller Akteure und Betroffener sowie die Vermeidung von Stigmatisierung sein. Gerade teilweise sehr gut informierte Patientinnen und Patienten werden außerdem eine relevante ärztliche Expertise vor allem bei einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe bestmöglich nutzen können. Dies ist beim PCS besonders relevant, da viele Ärztinnen und Ärzte aktuell noch einen hohen Weiterbildungsbedarf haben.

Vielversprechende partizipative Ansätze werden auch für die Forschung und Versorgung des PCS weiterentwickelt werden müssen. Erste gemeinsame partizipative Kongressformate von Fachgesellschaften wie dem explizit interdisziplinären Ärzte- und Ärztinnenverband Long COVID und dem Universitätsklinikum Jena zusammen mit Long COVID Deutschland oder der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS und der Charité konnten bereits wichtige Impulse für zukünftige Veranstaltungen wie den 2. Long-COVID-Kongress am 24. und 25. November 2023 in Jena sowie ein gemeinsames Engagement aller Akteure liefern.

Fazit

Ein koordinierter nationaler Ansatz, der der Überfachlichkeit und dem schnellen Informationszuwachs durch entsprechende Strukturen gerecht wird, erscheint ebenso möglich wie dringend nötig. Konkrete Ankündigungen, wie die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach angekündigte Finanzierung von Forschung mit Modellprojekten zur Versorgung und Behandlung sowie weiterer Forschungsverbünde, stellen damit einen höchst notwendigen und wichtigen ersten Schritt in die richtige Richtung dar. Eine Befassung am „Runden Tisch“ kann Bedarfe und Möglichkeiten verschiedener Stakeholder erfassen, um so der Diversität der Patientinnen und Patienten wie der Versorgungslandschaft gerecht zu werden.

Vita

Prof. Dr. Martin Walter ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Jena. Nach klinischer Ausbildung in Magdeburg, Zürich und Lyon forschte Prof. Walter als Arbeitsgruppenleiter am Leibniz-Institut für Neurobiologie, Magdeburg, und als Professor und leitender Oberarzt am Universitätsklinikum und dem Max-Planck-Institut für Kybernetik, Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt sind neben dem PCS behandlungsresistente Depressionen und die Verbindung von Psychotherapie mit biologischen Verfahren.

Prof. Walter ist seit 2021 Sprecher des Standortes Halle/Jena/Magdeburg des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit, der schwerpunktmäßig die Verbindung von Entzündungsmechanismen und Psyche untersucht. Neben seinem Engagement als Kongresspräsident des ersten und zweiten Long-COVID-Kongresses in Jena 2022 und 2023 setzt sich Prof. Walter seit 2023 als Präsident des Ärzte- und Ärztinnenverbands Long COVID für einen interdisziplinären Forschungs- und Versorgungsansatz beim PCS ein.