Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jens Scholz

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jens Scholz, 1. Vorsitzender des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands, erklärt in diesem Beitrag, warum es aus Sicht der Universitätsklinika vor allem Forschung braucht, um Patientinnen und Patienten mit Long COVID bestmöglich zu versorgen.

Veröffentlicht am 08.09.2023

Portraitfoto Prof. Dr. Scholz

© Copyright: VUD

Forschen und besser behandeln – zentrale Aufgabe der Universitätsklinika bei Long COVID

Viele Menschen leiden an den Folgen einer COVID-Infektion. Sie bestmöglich zu versorgen, bleibt eine gesellschaftliche Herausforderung. Zentraler Beitrag der Universitätsklinika ist die Erforschung der Krankheitsbilder und Entwicklung von Therapieansätzen. Die enge Verknüpfung von Versorgung und Forschung bleibt elementar für die Bewältigung von Pandemien, Krisen der Gesundheitsversorgung allgemein und neuen Krankheitsbildern wie Long COVID.

In den vergangenen Jahren gab es keine Erkrankung wie COVID-19, die die Medizin so akut vor Herausforderungen gestellt hat und mit ihren Folgen immer noch stellt. Keine Erkrankung hat die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems so sehr auf die Probe gestellt. Und keine Erkrankung hat so klargemacht, wie wichtig es ist, dass in der Forschung und in der medizinischen Ausbildung kritisches Denken und die Zusammenschau von Symptomen und Daten zusammengehen muss.

Jede Infektion birgt das Risiko langfristiger Schäden. Deshalb ist die Frage nach präzisen Diagnosekriterien, wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen und Risikofaktoren mit dem Ziel, Therapieformen zu finden, so wichtig. Bei Long COVID kann jedes Organsystem befallen werden und Symptome können lange bestehen bleiben. Neueste Daten deuten darauf hin, dass Patientinnen und Patienten noch zwei Jahre nach Infektion Symptome haben können. Generell muss man unterscheiden zwischen klar zu definierenden Folgeerkrankungen und eben eher diffusen Symptomen wie z. B. Fatigue, „brain fog“, Gedächtnisverlust oder dem seltenen ME/CFS. Deshalb ist die Diagnose von Long COVID immer noch schwierig, das Krankheitsbild ist nicht einheitlich. Auch ist die Abgrenzung von anderen Erkrankungen nicht in jedem Fall einfach. Die Versorgung, Erforschung und Weiterentwicklung von Therapien bleibt deshalb eine Herausforderung. Und sie ist gesellschaftlich relevant, denn eine akute COVID-19-Erkrankung kann längerfristige körperliche und psychische Beeinträchtigungen zur Folge haben.[1]

Rolle und Kompetenzen der Universitätsklinika

Es ist eine medizinische Ausnahme, dass so viele Menschen gleichzeitig an einem noch wenig verstandenen Krankheitsbild erkranken, das zudem so viele Symptome mit sich bringt. Universitätsklinika sind prädestiniert, hier schnell Fachwissen und Erfahrungen zu generieren, aber auch Fragen zwischen Fachleuten interdisziplinär auszutauschen. Die Universitätsmedizin sucht dabei auch den direkten Austausch mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, damit diese ihre Patientinnen und Patienten beraten und auf die richtigen Pfade der notwendigen Diagnostik und Therapie führen können. Diese sektorenverbindende Versorgung kann, wie bereits das Wirken der Universitätsklinika in der Pandemie, exemplarisch sein für zukünftig vernetzte und kooperierende Strukturen. Diese Entwicklung müssen die Akteure des Gesundheitswesens gemeinsam weiter verfolgen.

Inzwischen bieten alle Universitätsklinika an ihren Standorten im Rahmen der Hochschulambulanzen eine ambulante Long COVID-Versorgung an. Spezialambulanzen der Universitätsklinika sind meist die Anlaufstelle für schwerer Betroffene mit komplexer Symptomatik, weil hier verschiedene medizinische Fachrichtungen zusammenkommen. Patientinnen und Patienten profitieren von der interdisziplinären Arbeit und der umfangreichen Expertise. Denn insbesondere in Universitätsklinika wird nach fächerübergreifenden Lösungen gesucht – ein Ansatz, der gerade bei Long COVID notwendig ist. Zudem bieten Universitätsklinika eine umfassende Koordinierungs- und Beratungskompetenz für weitere Krankenhäuser und vor allem auch Arztpraxen. Mit diesen Angeboten leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung auch über die Mauern des einzelnen Universitätsklinikums hinaus.

Forschung im Netzwerk

Alle Standorte der Universitätsmedizin sind zudem über das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) in der COVID-19-Forschung zusammengeschlossen. Das NUM soll Maßnahmenpläne, Diagnostik- und Behandlungsstrategien zusammenführen und auswerten. Die horizontale Vernetzung der Universitätsklinika in der Forschung bedeutet einen Mehrwert für jedes einzelne Universitätsklinikum und auch einen Mehrwert für das gesamte Gesundheitswesen. Die Bündelung der Kompetenzen und Ressourcen soll Strukturen und Prozesse in den Kliniken schaffen, die eine möglichst optimale Versorgung der COVID-19-Erkrankten sicherstellt. Für die bestmögliche medizinische Versorgung sind ein schneller Erkenntnisgewinn und ein Austausch zu Verfahren und Best Practices äußerst wichtig. Möglichst viel Wissen aus der Pandemie soll für zukünftige Herausforderungen generiert werden.

Forschung zu Ursachen und Therapien

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat aufgrund der Neuartigkeit von COVID-19 und der geringen Erkenntnislage zu Long COVID den hohen Bedarf an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die komplexe Symptomatik und der ebenso komplexen Versorgung erkannt. Mit der Richtlinie „Förderung von Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen von COVID-19 (Long COVID)“ werden zahlreiche Vorhaben an verschiedenen Universitätsklinika in Deutschland gefördert. Zeitnah soll der wissenschaftliche Kenntnisstand zu Long COVID erschlossen werden und für die Anwendung in der Praxis zugänglich gemacht werden. Darunter sind Forschungen zu Post-COVID-assoziierter Immundysfunktion, ergotherapeutischen Intervention, zu Long COVID bei Kindern, Untersuchung zu psychosozialen Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten, zu Sport und Long COVID-Syndrom oder auch Studien zu Einschränkungen der Teilhabe und Lebensqualität. Es gibt darüber hinaus Studien zu den Auswirkungen von Folgeerkrankungen auf Gesundheitszustand und Lebensqualität, zum Fatigue Syndrom, zur Identifizierung von Langzeitfolgen von COVID-19 für pulmonale und neurokognitive Störungen, klinische Studien, die die Spätfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion bei jungen Menschen erforschen oder Versorgungsstudien mit Schwerpunkt Lungenfunktion ˗ um nur einige Vorhaben der Universitätsklinika in Deutschland zu nennen.[2]

Mehr Förderung der Forschung

Um Betroffenen umfassend gut helfen zu können, müssen noch viele offene Fragen geklärt werden. Besonders zu den Ursachen und zur Behandlung von Long COVID muss deshalb intensiv weiter geforscht werden. Die Förderung von Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen muss darauf zielen, umfassend und zeitnah den wissenschaftlichen Kenntnisstand zu erschließen und für die Anwendung in der Praxis zugänglich zu machen. Die besten Behandlungspfade müssen ausreichend kommuniziert werden. Interdisziplinarität, Intensivierung der Therapieforschung und Aufklärung bleiben die wichtigsten Maßnahmen zur immer besseren Versorgung von Long COVID.

Die Universitätsmedizin in Deutschland wird weiter wissenschaftliche Erkenntnisse generieren, um die Krankheitsbilder besser zu verstehen und neue Therapieansätze zu entwickeln – zum Wohle aller Patientinnen und Patienten. Es ist wichtig und richtig, jetzt ausreichend Unterstützung bereitzustellen, um die Forschung noch mehr zu intensivieren und die Versorgung zu verbessern. Der Handlungsbedarf ist auch politisch erkannt, wie die BMG-Initiative Long COVID zeigt.

Vita

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jens Scholz ist seit dem 1. Juli 2021 1. Vorsitzender des VUD. Dem VUD-Vorstand gehört er bereits seit 2015 an. Der Professor für Anästhesiologie ist seit 2009 Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Zuvor war er am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) als C-3-Professor tätig. Im Jahr 2000 erhielt er den Ruf der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Professor (C 4) für Anästhesiologie und Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin an das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel. Professor Scholz ist Executive MBA (Universität St. Gallen) und Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.