Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), erläutert in seinem Gastbeitrag, warum neuropsychiatrische Symptome von Long COVID stärker in Versorgung und Forschung berücksichtigt werden müssen, um die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten zu verbessern.

Veröffentlicht am 13.10.2023

Profilfoto: Prof. Dr. Meyer-Lindenberg

© ZI | Daniel Lukac

Welche Krankheitsmechanismen stecken hinter Long COVID? Dieser Frage gehen Forschende intensiv nach, um wirksame Therapiemöglichkeiten für betroffene Patientinnen und Patienten entwickeln zu können – vieles ist noch unbekannt. Was wir aber wissen: Anders als bei einer akuten COVID-19-Infektion spielen neuropsychiatrische Symptome wie Fatigue, Gedächtnisprobleme oder Schlafstörungen eine große Rolle. Ihre Folgen dürfen nicht vernachlässigt werden. Um Long-COVID-Betroffene optimal versorgen zu können, müssen diese oftmals sehr belastenden Symptome vermehrt bei der Therapie berücksichtigt werden und stärker in den Fokus der Forschung rücken.

Die häufigsten Symptome von Long COVID sind neuropsychiatrischer Art

Fatigue, Gedächtnisprobleme, Angst, Depression, Schlafstörungen – anders als bei der akuten SARS-CoV-2-Infektion dominieren bei Long COVID neuropsychiatrische Symptome. So deuten aktuelle Studienergebnisse darauf hin, dass acht der zehn häufigsten Long-COVID-Symptome neuropsychiatrischer Art sind. Wir gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten nach einer COVID-19-Infektion an einer neurologischen oder psychischen Erkrankung leidet und dass diese Erkrankungen nach einer COVID-19-Infektion häufiger auftreten als nach einer Grippe oder anderen Atemwegsinfektionen. Darüber hinaus ist bekannt, dass Menschen mit psychischen Vorerkrankungen ein höheres Risiko haben, Long COVID zu entwickeln.

Long COVID muss ganzheitlich betrachtet werden

Gerade weil die Krankheitsmechanismen noch nicht geklärt sind, die Long COVID zugrunde liegen, ist eine multifaktorielle Betrachtungsweise wichtig. Diese muss die biopsychosozialen Aspekte der Erkrankung berücksichtigen. So können sich komplexe pathophysiologische Veränderungen, die durch Entzündungen verursacht werden, auf das periphere und das zentrale Nervensystem auswirken und auch mit neuropsychiatrischen Symptomen einhergehen. Hinzu kommen psychologische Faktoren wie Erwartungen und Überzeugungen bezüglich einer Krankheit. Sie wirken sich auf die Wahrnehmung und Bewertung körperlicher Symptome aus und sind ebenso bedeutsam dafür, wie eine Erkrankung bewältigt wird. Die soziale Dimension, die zwischenmenschliche Beziehungen oder auch den gesellschaftlichen Umgang mit einer Erkrankung in den Blick nimmt, kann den Krankheits- und Genesungsverlauf ebenso beeinflussen.

Ein ausschließlicher Fokus auf biologische Aspekte, wie er derzeit vorherrscht, wird dem Erleben vieler Long-COVID-Betroffener ebenso wenig gerecht wie ein Ausklammern aller biologischen Ursachen. Er erschwert zudem, zu einem tieferen Verständnis der Erkrankung zu gelangen und wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Das ist allerdings wesentliche Voraussetzung dafür, wirksame Behandlungsoptionen aus bereits etablierten Therapien abzuleiten und darüber hinaus neue Verfahren zu erschließen, die den Patientinnen und Patienten zugutekommen.

Eine bestmögliche Versorgung muss multiprofessionell und koordiniert erfolgen

In Gesprächen mit Betroffenen wird deutlich, dass der Bedarf an Hilfsangeboten sehr groß ist. Gleichzeitig stellen die Vielzahl und die Vielfalt der berichteten Symptome viele Ärztinnen und Ärzte vor Herausforderungen, denn sie erfordern mehr als das Wissen eines einzelnen Fachgebiets. Da es derzeit keine Therapie gibt, die direkt an den Krankheitsmechanismen ansetzt, muss die Behandlung auf einzelne Symptomkomplexe abzielen. Unser Fokus sollte sich daher darauf richten, interdisziplinäre und multiprofessionelle Therapieangebote auf- und auszubauen. Die psychiatrische Expertise miteinzubeziehen, ist unerlässlich, um von Long COVID betroffene Menschen optimal versorgen zu können. Insbesondere neuropsychiatrische Symptome, die Betroffene sehr belasten, lassen sich beispielsweise mit psychotherapeutischen, rehabilitativen und medikamentösen Verfahren deutlich reduzieren. Das gilt auch für die sehr häufigen Schlafstörungen.

Forschungsinitiativen müssen die neuropsychiatrische Expertise einbeziehen

Viele Forschungsfragen rund um die Entstehung und Behandlung von Long COVID sind derzeit noch offen. Auch hier sind inter- und transdisziplinär orientierte Forschungsinitiativen gefragt, die die neuropsychiatrische Expertise einbeziehen. Ein wichtiger Fokus wird weiterhin auf der Erforschung der Krankheitsursache liegen, die über einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Beschwerden und einer vorhergehenden Infektion hinausgeht. Im Bereich klinischer Studien liegt die Aufgabe darin, zu untersuchen, wie medikamentöse und nicht medikamentöse Interventionen unabhängig voneinander oder in Kombination miteinander für die erfolgreiche Behandlung von Long COVID eingesetzt werden können. Unentbehrlich ist es, hier auch die Perspektive von Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen: Betroffene und Angehörige müssen so konsequent wie möglich in den Forschungsprozess einbezogen werden, um die Relevanz der Forschungsergebnisse für die Praxis zu gewährleisten und die Lebenswelt der von Long COVID betroffenen Menschen tatsächlich zu verbessern.

Long COVID wird auf absehbare Zeit eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft und das Gesundheitssystem bleiben, die eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Herangehensweise erfordert. Unser Ziel ist es, die Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit Long COVID nachhaltig zu verbessern. Dazu gehört es im Übrigen auch, einer Stigmatisierung aktiv entgegenzuwirken, der Menschen, die unter neuropsychiatrischen Symptomen leiden, oftmals ausgesetzt sind.

Vita

Prof. Dr. med. Andreas Meyer-Lindenberg ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), der größten medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Fragen psychischer Erkrankungen in Deutschland. Die DGPPN bündelt die Kompetenz von mehr als 11.000 Fachleuten aus Psychiatrie und Psychotherapie, die in Universitätskliniken, Krankenhäusern, ambulanten Praxen und der Forschung auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit tätig sind. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und für Neurologie leitet seit 2007 das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim sowie die dortige Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Zudem lehrt er als Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg und an der Medizinischen Fakultät Mannheim.