Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.
Gastbeitrag: Lucas C. Adam & Christiana Franke
Der Gastbeitrag von Dr. Lucas C. Adam und PD Dr. Christiana Franke von der Charité Universitätsmedizin Berlin befasst sich mit der Frage, warum Post-akute infektiöse Syndrome (PAIS) eine individualisierte Medizin erfordern und welche Herausforderungen sich daraus ergeben.
Veröffentlicht am: 28.07.2025

© Nina Schipoff, Dr. Christiana Franke
Von mild bis schwer betroffen: Warum Post-akute infektiöse Syndrome (PAIS) eine individualisierte Medizin erfordern
Als das Coronavirus SARS-CoV-2 die Welt in eine Pandemie stürzte, richtete sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die akute Erkrankung und die Vermeidung schwerer Verläufe. Mittlerweile ist jedoch klar geworden, dass eine weitere Herausforderung langfristige Auswirkungen auf Gesundheitssysteme, Wirtschaft und Gesellschaft hat: Long COVID oder der Post-COVID-19-Zustand.
Darunter versteht man anhaltende oder neu auftretende Beschwerden, die Wochen oder Monate nach einer überstandenen Infektion fortbestehen. Diese können leicht bis schwer ausgeprägt sein und sowohl körperliche als auch psychische Funktionen betreffen. Für viele Betroffene bedeutet dies eine gravierende Einschränkung ihres Lebensalltags und es stellt die medizinische Versorgung vor erhebliche Herausforderungen.
Ein zentrales Problem ist, dass der Post-COVID-19-Zustand kein einheitliches Krankheitsbild darstellt. Die Symptome variieren stark in Art, Auftreten und Intensität. Manche Betroffene leiden vor allem unter chronischer Erschöpfung (Fatigue), andere unter kognitiven Einschränkungen, Atemnot, Herzrasen oder anhaltenden Schmerzen. Während die meisten Patientinnen und Patienten den Alltag noch selbstständig bewältigen können, sind andere arbeitsunfähig oder gar bettlägerig.
Interessanterweise steht der Post-COVID-19-Zustand nicht völlig allein da. Auch nach anderen Infektionskrankheiten können anhaltende Beschwerden auftreten, die medizinisch unter dem Begriff post-akute infektiöse Syndrome (PAIS) zusammengefasst werden. Dazu zählen beispielsweise Erkrankungen wie das chronische Erschöpfungssyndrom nach Epstein-Barr-Virus-Infektionen oder prolongierte Beschwerden nach Dengue- oder Influenza-Infektionen. Diese Krankheitsbilder ähneln dem Post-COVID-19-Zustand in vielerlei Hinsicht: Die Symptome sind oft vielfältig, schwer greifbar und führen zu großer Unsicherheit in Diagnostik und Therapie. Die Erfahrungen mit PAIS zeigen, wie dringend strukturierte Versorgungsmodelle und intensive Forschung gebraucht werden – nicht nur für Post-COVID-19, sondern für ein ganzes Spektrum bislang wenig verstandener Krankheitsbilder nach Infektionserkrankungen.
Diagnosemöglichkeiten von PAIS
Es existiert bis heute kein spezifischer Labortest oder bildgebendes Verfahren, das PAIS eindeutig nachweist. Die Diagnose erfolgt primär durch die sorgfältige Anamnese der Symptome und den Ausschluss anderer Erkrankungen. Dies ist besonders anspruchsvoll, da viele PAIS-Beschwerden auch bei anderen Krankheitsbildern auftreten können. Oftmals verläuft die Primärinfektion unbemerkt oder sie kann im Verlauf nicht mehr eindeutig nachgewiesen werden. Für viele Patientinnen und Patienten beginnt daher eine oft zermürbende Odyssee von Arztbesuchen, Untersuchungen und unterschiedlichsten Therapieansätzen – häufig ohne klare Antworten.
Hinzu kommt, dass es keine standardisierte Behandlung gibt. Manche Betroffene profitieren von moderater körperlicher Aktivität, während diese bei anderen die Beschwerden verschlimmert. Therapeutische Strategien müssen individuell angepasst werden – eine enorme Herausforderung für Patientinnen, Patienten und Behandler.
Doch nicht nur die medizinischen Unterschiede zwischen den Patientinnen und Patienten erschweren eine gezielte Versorgung. Auch die jeweilige persönliche und soziale Lebenssituation spielt eine wesentliche Rolle: Haben Betroffene noch die Möglichkeit zu arbeiten? Sind sie finanziell abgesichert? Steht ein unterstützendes soziales Umfeld zur Verfügung? Oder müssen sie selbst Kinder betreuen oder Angehörige pflegen? Diese Faktoren beeinflussen sowohl die Belastung durch die Erkrankung als auch die Möglichkeiten für Diagnostik und Therapie.
Optimale Versorgung in der Diskussion
Ein wesentlicher Aspekt in der Diskussion um eine optimale Versorgung ist die Frage, wo und durch wen die Behandlung stattfinden soll. Bei milderen Fällen sind Hausärztinnen und Hausärzte die erste Anlaufstelle. Sie kennen meist die Krankengeschichte ihrer Patientinnen und Patienten und können gezielt an Fachärztinnen und Fachärzte überweisen. Doch gerade bei komplexen Verläufen stoßen Hausärztinnen und Hausärzte an Grenzen: Hohe Arbeitsbelastung, fehlende Leitlinien und eingeschränkte diagnostische Möglichkeiten erschweren die Versorgung. Dies führt nicht selten zu Frustration bei Patientinnen und Patienten.
Am anderen Ende des Spektrums stehen Patientinnen und Patienten mit schweren Verläufen, die keiner ambulanten Behandlung zugänglich sind. Für diese Patientengruppe muss jedoch trotzdem eine vernünftige, patientenorientierte Lösung gefunden werden. In Kliniken steht eine umfangreiche apparative (medizinische Untersuchung mit technischen Geräten) und invasive (medizinische Untersuchungen, die einen Eingriff in den Körper beinhalten) Diagnostik zur Verfügung. Zudem können dort spezialisierte multidisziplinäre Teams aus unterschiedlichen Fachrichtungen zusammenarbeiten, etwa Kardiologie, Pneumologie, Neurologie, Psychosomatik oder Physiotherapie. Für schwer betroffene Patientinnen und Patienten kann eine stationäre Rehabilitation eine wichtige Rolle spielen, um die Leistungsfähigkeit wiederherzustellen. Allerdings sind stationäre Aufenthalte mit hohen Kosten verbunden und häufig nur begrenzt verfügbar. Zudem können Krankenhausumgebungen für manche Betroffenen zusätzlichen Stress bedeuten, was die Symptome unter Umständen noch verstärkt.
Für Patientinnen und Patienten, die zwar schwer beeinträchtigt sind, aber nicht zwingend eine stationäre Versorgung benötigen, könnten medizinische Hausbesuche eine wertvolle Alternative darstellen. Hierdurch lassen sich anstrengende Anfahrtswege vermeiden, und Ärztinnen und Ärzte erhalten gleichzeitig Einblicke in die häusliche Umgebung, was bei der Einschätzung der Belastungssituation hilfreich sein kann. Hausbesuche fördern darüber hinaus oft das Vertrauen zwischen Patient und Behandler. Doch auch hier bestehen Hürden: Hausbesuche sind zeitintensiv, für viele Praxen organisatorisch kaum leistbar, und nicht alle diagnostischen Möglichkeiten stehen im häuslichen Umfeld zur Verfügung.
Um die Versorgungslücken zu schließen, werden zunehmend hybride Versorgungsmodelle diskutiert. Dazu gehören mobile medizinische Teams mit tragbaren Geräten für Basisdiagnostik, digitale Sprechstunden, in denen Spezialistinnen und Spezialisten virtuell hinzugezogen werden, oder eine enge Verzahnung zwischen Hausarztpraxen und spezialisierten PAIS-Ambulanzen. Ziel solcher Modelle ist es, eine individualisierte und bedarfsgerechte Betreuung sicherzustellen, die sowohl die Schwere der Symptome als auch die persönliche Lebenssituation der Betroffenen berücksichtigt.
Herausforderungen und Hoffnungen
Neben den gesundheitlichen Folgen bringt PAIS auch gravierende ökonomische und soziale Konsequenzen mit sich. Viele Betroffene können ihren Beruf nicht mehr ausüben, was zu Einkommensverlusten und sozialer Isolation führt. Familienangehörige müssen oft zusätzliche Pflegeaufgaben übernehmen, was sie emotional und finanziell stark belastet. Besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen, etwa Menschen mit geringem Einkommen oder unsicherer Beschäftigung, sind hiervon besonders betroffen.
Trotz aller Herausforderungen gibt es auch Anlass zur Hoffnung. Die Forschung zu PAIS schreitet weltweit voran. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten intensiv daran, die biopsychosozialen Mechanismen der Erkrankung besser zu verstehen, Marker für eine verlässliche Diagnose zu identifizieren und wirksame interdisziplinäre Therapien zu entwickeln. Auch das öffentliche Bewusstsein wächst, und in zahlreichen Ländern wird PAIS inzwischen als ernstzunehmende gesundheitspolitische Aufgabe anerkannt.
PAIS ist eine komplexe Gesundheitsstörung, die körperliche, psychische und soziale Dimensionen hat. Ihre Behandlung erfordert nicht nur medizinische Expertise, sondern auch ein hohes Maß an Empathie, Flexibilität und die Bereitschaft, neue Versorgungsstrukturen zu etablieren. Entscheidend wird sein, sowohl Patientinnen und Patienten mit milden Verläufen gerecht zu werden als auch jene zu unterstützen, die schwer betroffen und massiv in ihrem Leben eingeschränkt sind.
Vita
Herr Dr. med. Dipl.-Psych. Lucas Adam ist Diplom-Psychologe und Assistenzarzt an der Klinik für Neurologie an der Charité mit Forschungsaufenthalten am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin sowie an der Yale Medical School, USA. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Franke begleitet er Interventions- und Observationsstudien zu PAIS an der Klinik für Neurologie der Charité. Darüber hinaus gilt sein Forschungsinteresse den Wechselwirkungen zwischen Stress und Immunsystem sowie deren Einfluss auf die psychische und körperliche Gesundheit.
Frau PD Dr. med. Christiana Franke ist Oberärztin der Klinik für Neurologie der Charité Berlin und leitet die neurologische post-COVID-19 und PAIS Sprechstunde der Charité am Campus Benjamin Franklin. Wissenschaftlicher Schwerpunkt sind kognitive Störungen und Neurodegeneration. Frau Franke leitet die BMBF-geförderte Interventionsstudie „PoCoVIT“, die den Einfluss von Methylprednisolon auf Patient:innen mit kognitiven Störungen im Rahmen eines Post-COVID-19 Syndroms untersucht und ist Teilprojektleiterin der BMG-geförderten Studie "PAIS-Care". Ihre bisherigen Arbeiten leisten einen Beitrag zum Verständnis von pathophysiologischen Mechanismen bei Post-COVID-19 Syndrom.