Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Dr. med. (I) Klaus Reinhardt

Dr. Klaus Reinhardt, der Präsident der Deutschen Bundesärztekammer, erklärt in diesem Gastbeitrag, was es aus ärztlicher, aber auch aus politischer Sicht braucht, um die Diagnostik und Behandlung von Long COVID in Deutschland zu verbessern.

Veröffentlicht am 03.08.2023

Portraitfoto: Dr. med. Klaus Reinhard

© Copyright: Hoffotografen

Das Post-COVID-Syndrom (PCS; auch „Long COVID“)

Das Post-COVID-Syndrom, kurz PCS, als schwere Folge einer SARS-CoV-2-Infektion steht im Fokus einer gesellschaftspolitischen Debatte. Angesichts dessen hatte der Vorstand der Bundesärztekammer seinen Wissenschaftlichen Beirat damit beauftragt, die aktuelle Datenlage zu sichten und eine Stellungnahme zu erarbeiten. Ausgangspunkt unserer im Oktober 2022 veröffentlichten Stellungnahme ist eine definitorische Abgrenzung, insbesondere zu umgangssprachlichen Begriffen wie dem im Internet geprägten Begriff „Long COVID“, damit klar ist, was wir unter PCS verstehen. Länger als zwölf Wochen nach einer SARS-CoV-2-Infektion bestehende Beschwerden, die bei Personen mit einer Vorgeschichte einer wahrscheinlichen oder bestätigten SARS-CoV-2-Infektion auftreten und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können, werden gemäß einer von der WHO entwickelten Definition als PCS bezeichnet.

Fachliche Expertise der Ärzteschaft einbeziehen

Auf der Basis internationaler Daten wird immer deutlicher, dass bis zu 15% der SARS-CoV-2-Infizierten von PCS betroffen sind. Mitte September 2022 hatte die WHO diese Zahl in einer aktuellen Modulation bestätigt und festgestellt, dass in den 53 Mitgliedstaaten der WHO Europa-Region bis zu 17 Millionen Menschen im Rahmen der ersten beiden Jahre der Pandemie ein PCS entwickelt haben. Schlagzeilen wie diese machen deutlich, dass das Thema auch international diskutiert wird. Wir möchten in diese wichtige Debatte die fachliche Expertise der Ärzteschaft einbringen. Denn wir möchten erreichen, dass politische Entscheidungen auf der Basis der bestmöglichen verfügbaren Evidenz gefällt werden. Unsere Stellungnahme richtet sich an Ärztinnen und Ärzte, Betroffene, die interessierte Öffentlichkeit und nicht zuletzt an die Politik.

Jetzt politisch aktiv werden und Weichen für den Umgang mit PCS stellen

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, politisch aktiv zu werden und die Weichen für den weiteren Umgang mit PCS zu stellen. Darauf haben insbesondere die Betroffenen einen Anspruch, aber auch alle anderen. Denn es geht zum einen darum, PCS bestmöglich zu diagnostizieren und zu behandeln, aber zum anderen auch darum, das Krankheitsbild besser zu verstehen und mögliche präventive Maßnahmen zu entwickeln. Unsere Stellungnahme soll dazu beitragen, dass die jetzt notwendigen Schritte zur weiteren Verbesserung der Datenlage zum PCS, der Versorgung der Betroffenen sowie zur Information der Bevölkerung und zur Prävention eingeleitet werden.

Das von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach angekündigte Hilfsprogramm für Patientinnen und Patienten mit PCS begrüßen wir als Schritt in die richtige Richtung. Es ist wichtig, jetzt ausreichend finanzielle Mittel bereitzustellen, um die Forschung zum PCS intensivieren zu können. Denn wir müssen das Krankheitsbild besser verstehen, um die Erkrankung diagnostizieren und die betroffenen Patientinnen und Patienten bestmöglich behandeln zu können.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Aus den verfügbaren wissenschaftlichen Daten leiten wir folgende Maßnahmen für den Umgang mit dem PCS im deutschen Gesundheitssystem ab:

  • Datenlage: Repräsentative prospektiv geplante und registrierte Studien und ggf. App-gestützte Screenings nach SARS-CoV-2-Infektion sind notwendig, um die Prävalenz besser zu erfassen und die Datengrundlage für die Früherkennung des PCS, die Verbesserung von Diagnostik und Therapie sowie den Aus- und Aufbau von adäquaten Versorgungsstrukturen für PCS-Patientinnen und Patienten zu schaffen.
  • Forschung: Interdisziplinäre Forschungsverbünde sind notwendig, um ein vollständiges Bild über die Erkrankung und deren psychosoziale Begleiterscheinungen zu gewinnen, die bislang nicht verstandenen Ursachen und Risikofaktoren für die Entwicklung eines PCS zu verstehen und effektive Therapiemöglichkeiten zu entwickeln. Hierbei sind Kapazitäten für Grundlagenforschung, klinische Studien und Versorgungsforschung aufzubauen. Es sollte ein nationales PCS-Netzwerk eingerichtet werden, das die klinischen Strukturen und PCS-Zentren in einen Dialog mit vorhandenen Forschungsinfrastrukturen bringt und vernetzt. Das PCS-Netzwerk erzeugt Wissen, das im Sinne der Translation über die Ebene der PCS-Zentren hinaus in die haus- und fachärztliche ambulante Versorgung getragen wird.
  • Versorgungskapazitäten: Um die vielen PCS-Patientinnen und Patienten bestmöglich zu behandeln, sollten regionale PCS-Netzwerke unter Einbeziehung bestehender Strukturen und aller Sektoren und Versorger des Gesundheitswesens inklusive spezialisierter Rehabilitationseinrichtungen eingerichtet werden. Die Abrechnungsmodalitäten hierfür müssen geklärt werden. Eine erweiterte ICD-10-Codierung für PCS mit verschiedenen Organmanifestationen ist zu etablieren.
  • Vernetzte Versorgung: Die intersektorale Versorgung sollte in einem koordinierten Wechselspiel zwischen hausärztlicher bzw. kinder- und jugendmedizinischer Versorgung, fachärztlicher spezialisierter Behandlung und spezialisierten PCS-Zentren erfolgen. Hierfür sind strukturierte Diagnose- und Therapiealgorithmen zu erstellen.
  • Information: Angesichts der anhaltenden Folgen des PCS für Betroffene und die Gesellschaft ist die Entwicklung eines Informations- und Fortbildungsangebots insbesondere für Ärztinnen und Ärzte, Angehörige anderer Gesundheitsberufe, Patientinnen und Patienten, Arbeitgebende, Schulen und die Öffentlichkeit essenziell. Die Interessenvertretungen der PCS-Patientinnen und -Patienten sollten in die zu schaffenden Infrastrukturen, Kommunikationsprozesse und Forschungskonzepte eingebunden werden.
  • Prävention: Wegen der teilweise gravierenden Folgen des PCS für die Gesundheit der Betroffenen erscheint es weiterhin ratsam, die SARS-CoV-2-Infektionen durch der jeweiligen Pandemiesituation angepasste, angemessene Präventionsmaßnahmen niedrig zu halten und die Bereitschaft der Bevölkerung zur Impfung gemäß STIKO-Empfehlungen zu fördern.

Die Ärzteschaft ist gerne bereit, die Politik bei der Umsetzung dieser Empfehlungen mit ihrer fachlichen Expertise weiterhin zu beraten und zu unterstützen. 

Quellen

Vita

Dr. med. (I) Klaus Reinhardt: 

Dr. Klaus Reinhardt ist ein deutscher Facharzt für Allgemeinmedizin und seit 2011 Vorsitzender des Hartmannbundes. Seit 2015 ist er vom Deutschen Ärztetag gewähltes Mitglied des Bundesärztekammervorstandes, seit 2019 Präsident der Bundesärztekammer. Reinhardt ist als Facharzt für Allgemeinmedizin und Hausarzt in Bielefeld niedergelassen und hat neben seinem berufspolitischen Engagement somit einen aktuellen Einblick in die ärztliche Tätigkeit sowie die Gesundheitsversorgung.

Dr. Klaus Reinhardt vertritt als Präsident der Bundesärztekammer die berufspolitischen Interessen der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland und setzt sich insbesondere für die ärztliche Freiberuflichkeit und eine starke ärztliche Selbstverwaltung ein. Als Mitglied des Vorstandes des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer ist es ihm zudem ein Anliegen, die Evidenzbasierung gerade auch zu aktuellen Themen wie dem Post-COVID-Syndrom weiter zu fördern, sowohl innerhalb der Medizin wie auch – dem von der WHO geprägten „Health-in-All-Policies“-Ansatz entsprechend – innerhalb der Gesellschaft.