Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Daniel Hattesohl

Daniel Hattesohl, Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, befasst sich in seinem Gastbeitrag mit der Sonderstellung postinfektiöser Erkrankungen in der Medizin. Einen besonderen Fokus legt er hierbei auf die Ähnlichkeit der Symptome von ME/CFS verglichen mit denen innerhalb einer Subgruppe Long-COVID-Betroffener. 

Portraitfoto: Daniel Hattesohl

© Fotografin Elena Zaucke

Ein Paradigmenwechsel ist nötig – ME/CFS, Long COVID und postinfektiöse Erkrankungen

Zeitgleich mit der Einführung des Begriffs „Long COVID“ durch die Betroffene Elisa Perego warnte eine andere Gruppe von Erkrankten vor den Langzeitfolgen der Coronavirus-Pandemie: Menschen mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Bereits im Mai 2020 machten ME/CFS-Kranke und -Forschende darauf aufmerksam, dass Symptome einer Subgruppe Long-COVID-Betroffener erstaunlich denen von ME/CFS glichen. Sie wiesen darauf hin, dass sich die (Medizin-)Geschichte wiederholen könnte. Bereits aus der SARS-Pandemie 2002/2003 waren chronische ME/CFS-Fälle im Anschluss an die Akuterkrankung dokumentiert (Lam et al., 2009).

Was ist ME/CFS?

ME/CFS ist eine schwere, organische Erkrankung, die zum größten Teil nach viralen Infektionen auftritt, unter anderem nach dem Epstein-Barr-Virus (EBV), der Influenza oder Enteroviren. Auch die Genese – wenn auch seltener – nach bakteriellen Infektionen, Operationen oder Schleudertraumen ist bekannt. In der Krankheitsschwere ist ME/CFS mit Multipler Sklerose vergleichbar (Hvidberg et al., 2015). Kennzeichnend für ME/CFS ist eine deutliche Verschlechterung der Symptomatik nach nur geringer körperlicher Aktivität (Post-Exertionelle Malaise). Dazu kommen weitere Symptome wie Fatigue, Myalgien, orthostatische Intoleranz, neurokognitive Probleme („Brain Fog“) und die Hypersensitivität auf Licht und Geräusche (Institute of Medicine, 2015). Sehr schwer an ME/CFS Erkrankte sind bettgebunden und müssen häufig künstlich ernährt werden (Montoya et al., 2021).

ME/CFS ist keine neue Erkrankung, sondern seit mindestens 70 Jahren in der medizinischen Literatur beschrieben. Seit 1969 ist ME/CFS offiziell von der WHO gelistet. Die Erkrankung trat immer wieder gehäuft nach Epidemien und Clusterausbrüchen auf (der Name Myalgische Enzephalomyelitis wurde 1955 nach einem infektiösen Ausbruch an mehreren Krankenhäusern in London geprägt; The Medical Staff Of The Royal Free Hospital, 1957). Aber auch sporadische Fälle sind häufig.

ME/CFS tritt auch nach COVID-19 auf

Heute wissen wir, dass die Warnungen der Erkrankten eingetreten sind. Gut ein Dutzend Studien weisen darauf hin, dass bis zu 50 Prozent der Long-COVID-Betroffenen nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer an ME/CFS leiden (wobei die Zahl durch den Selektionsbias der Ambulanzen etwas niedriger sein könnte). ME/CFS wird von Expertinnen und Experten als „die schwerste Form von Post COVID“ bezeichnet. Viele pathophysiologische Auffälligkeiten, die man heute in Studien bei Long COVID findet, sind schon lange aus der ME/CFS-Forschung bekannt. Zu nennen wären Autoimmunität gegen adrenerge und cholinerge Rezeptoren, eine endotheliale Dysfunktion oder eine verminderte zerebrale Perfusion (Ichise et al., 1992). Vermutlich hat sich die Zahl von 250.000 ME/CFS-Kranken vor der Pandemie durch COVID-19 auf 500.000 verdoppelt (Daten der KBV, 2023).

Eine Versorgung oder Therapien gibt es hingegen nicht. ME/CFS fristete jahrzehntelang in der Medizin ein Schattendasein, die Krankheit wurde ignoriert, Erkrankte wurden teilweise psychiatrisiert und mit kontraindizierten Therapien behandelt (IQWiG, 2023). Das Wissen um ME/CFS ist bis heute in der Ärzteschaft nur lückenhaft verbreitet. Deutschlandweit gibt es nur zwei universitäre Ambulanzen, die sich auf ME/CFS spezialisiert haben und nur einen Bruchteil der Patientinnen und Patienten versorgen können.

Der blinde Fleck der Medizin – postinfektiöse Erkrankungen

Das liegt auch an einem hundert Jahre alten blinden Fleck in der Medizin zu postinfektiösen Syndromen bzw. Erkrankungen. Dabei sind postvirale Sequelae bereits im 19. und 20. Jahrhundert nach der Russischen und Spanischen Grippe beschrieben worden (Honigsbaum und Krishnan, 2020; Islam et al., 2020). Unter anderem litt die Begründerin der modernen Krankenpflege, Florence Nightingale, vermutlich nach einer Brucellose an lebenslangen postinfektiösen Symptomen und konnte das Bett die letzten fünfunddreißig Jahre ihres Lebens kaum noch verlassen.

Thomas Kuhn schrieb in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, dass „die [wissenschaftliche] Entdeckung mit dem Bewußtwerden einer Anomalie [beginnt], das heißt mit der Erkenntnis, daß die Natur in irgendeiner Weise, die von einem Paradigma erzeugten, die normale Wissenschaft beherrschenden Erwartungen nicht erfüllt hat“.

Zu lange hat die Medizin nur Akutverläufe, Mortalität und eventuell die verlängerte Rekonvaleszenz von viralen Infektionen betrachtet („genesen oder verstorben“), aber nicht die Folgeschäden und Folgeerscheinungen. Postinfektiöse chronische Erkrankungen wie ME/CFS nach EBV, Influenza oder jetzt nach SARS-CoV-2 waren im alten Paradigma nicht denkbar und wurden als psychogene Symptome „falscher Krankheitsüberzeugungen“ oder „Dekonditionierung“ missinterpretiert. 

Es braucht ein neues Paradigma

Ein Paradigmenwechsel in der Medizin ist nötig: Der blinde Fleck der postinfektiösen Erkrankungen muss endlich umfassend beleuchtet werden. Sie müssen als eigenständige Erkrankungen biomedizinisch erforscht und alle Patientinnen und Patienten, unabhängig vom Auslöser, versorgt werden. So sieht auch der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung vor, Kompetenzzentren für Long COVID sowie für ME/CFS aufzubauen. 

Um Long COVID zu verstehen, muss die Medizin die jahrzehntelange Forschung über ME/CFS und verwandte Erkrankungen wie POTS (Posturales Orthostatisches Tachykardiesyndrom) und ihre Erfahrungen damit nutzen und sich auch von zweifelhaften Axiomen verabschieden, beispielsweise, dass bei organischer „Unauffälligkeit“ psychogene Ursachen anzunehmen seien. Oft handelt es sich nur um einen Mangel an pathophysiologischer und diagnostischer Forschung, das heißt, man hat nicht genau genug hingeschaut. 

Auch muss sich die Medizin davon lösen, dass Sport und Aktivierung jedem Erkrankten helfen können. ME/CFS-Erkrankte reagieren aufgrund der pathologischen Post-Exertionellen Malaise auf körperliches Training mit einer Verschlechterung ihrer Symptomatik beziehungsweise ihres Zustands. Aus diesem Grund warnen internationale Gesundheitsbehörden vor Aktivierung bei ME/CFS (z. B. NICE, 2021).

Vorreiter auf dem Gebiet der postinfektiösen Erkrankungen ist z. B. Prof. Dr. Scheibenbogen, die am Institut für Medizinische Immunologie der Charité seit über zehn Jahren ME/CFS erforscht. Heute betrachtet sie ME/CFS und Long COVID gemeinsam und leitet eine nationale klinische Studiengruppe (NKSG) mit mehreren Therapiestudien. Oder Prof. Dr. Iwasaki, die in Yale im Juni das Center for Infection & Immunity gegründet hat, um LC, ME/CFS und Lyme-Borreliose synergistisch zu erforschen.

Deshalb: Denken wir um! Legen wir los!

Literatur

Committee on the Diagnostic Criteria for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome, Board on the Health of Select Populations, & Institute of Medicine. (2015). Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness. National Academies Press (US). http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK274235/

Honigsbaum, M., & Krishnan, L. (2020). Taking pandemic sequelae seriously: From the Russian influenza to COVID-19 long-haulers. The Lancet, 396(10260), 1389–1391. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32134-6

Hvidberg, M. F., Brinth, L. S., Olesen, A. V., Petersen, K. D., & Ehlers, L. (2015). The Health-Related Quality of Life for Patients with Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS). PLOS ONE, 10(7), e0132421. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0132421

Ichise, M., Salit, I. E., Abbey, S. E., Chung, D. G., Gray, B., Kirsh, J. C., & Freedman, M. (1992). Assessment of regional cerebral perfusion by 99Tcm-HMPAO SPECT in chronic fatigue syndrome. Nuclear Medicine Communications, 13(10), 767–772.

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). (2023). Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) – Aktueller Kenntnisstand [N21-01]https://www.iqwig.de/projekte/n21-01.html

Islam, M. F., Cotler, J., & Jason, L. A. (2020). Post-viral fatigue and COVID-19: Lessons from past epidemics. Fatigue: Biomedicine, Health & Behavior, 8(2), 61–69. https://doi.org/10.1080/21641846.2020.1778227

Kassenärztliche Bundesvereinigung. (2023). https://www.bundestag.de/ausschuesse/a14_gesundheit/oeffentliche_anhoerungen/936116-936116, abgerufen am 27.09.2023

Lam, M. H.-B., Wing, Y.-K., Yu, M. W.-M., Leung, C.-M., Ma, R. C. W., Kong, A. P. S., So, W. Y., Fong, S. Y.-Y., & Lam, S.-P. (2009). Mental morbidities and chronic fatigue in severe acute respiratory syndrome survivors: Long-term follow-up. Archives of Internal Medicine, 169(22), 2142–2147. https://doi.org/10.1001/archinternmed.2009.384

Montoya, J., Dowell, T., Mooney, A., Dimmock, M., & Chu, L. (2021). Caring for the Patient with Severe or Very Severe Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. Healthcare, 9(10), 1331. https://doi.org/10.3390/healthcare9101331

National Institute for Health and Care Excellence (NICE). (2021). Myalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)/chronic fatigue syndrome: Diagnosis and management [NG206]https://www.nice.org.uk/guidance/ng206

The Medical Staff Of The Royal Free Hospital. (1957). AN OUTBREAK of encephalomyelitis in the Royal Free Hospital Group, London, in 1955. British Medical Journal, 2(5050), 895–904.

Vita

Daniel Hattesohl ist Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Er hat Medizin studiert und musste das Studium aufgrund seiner ME/CFS-Erkrankung pausieren. Als Vorsitzender setzt er sich für die Aufklärung und Anerkennung von ME/CFS ein und ist Co-Autor mehrerer Studien.