Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Prof. Dr. Clara Lehmann und Prof. Dr. Michael Hallek

Das Post-Covid-Syndrom ist eine schwere somatische Krankheit mit biologischen Ursachen, schreiben die Gastautoren Prof. Dr. Clara Lehmann und Prof. Dr. Michael Hallek in ihrem gemeinsamen Gastbeitrag. Sie betonen, es handele sich nicht um eine psychosomatische Krankheit.

Veröffentlicht am 12.07.2023

Portraitfoto: Prof Dr. Clara Lehmann und Prof. Dr. Michael Hallek

© Copyright: MedizinPhotoKoeln der Uniklinik Köln

Post-COVID-Syndrom (Long COVID): schwere somatische Krankheit mit biologischen Ursachen

Das Post-COVID-Syndrom (PCS) kann mit ähnlichen "Post-Akut-Infektionssyndromen" (PAIS) verglichen werden, die durch Viren wie Ebola, Dengue, Epstein-Barr-Virus (EBV), MERS-CoV, SARS-CoV-1 oder Influenza verursacht werden. Durch die Erforschung dieser Post-Akut-Infektionssyndrome können synergistische Erkenntnisse über die Pathomechanismen des PCS gewonnen werden. SARS-CoV-2 und das PCS bieten heute die Möglichkeit, mehr über die zugrunde liegenden Mechanismen von PAIS zu erfahren, da diese bisher noch unzureichend erforscht sind und eine Art "Black Box" in der Medizin darstellen.

Welche Symptome sind tatsächlich auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen?  

Die klare Unterscheidung des PCS stricto sensu von anderen medizinischen Problemen, wie anhaltenden Symptome einer COVID-19-Infektion, biologischen Korrelaten oder psychosozialem Stress, der durch die Pandemie verursacht wird, ist von grundlegender Bedeutung sowohl für Forschende als auch für Patientinnen und Patienten. Allerdings wird die Unterscheidung des PCS zu anderen Erkrankungen durch das Fehlen spezifischer Biomarker für das PCS erschwert. 

Symptome des Post-COVID-Syndroms (PCS) 

Die Erkrankung wird definiert durch eine bestätigte oder wahrscheinliche SARS-CoV-2-Infektion in der Anamnese, wobei die Symptome in der Regel drei Monate nach Beginn der COVID-19-Infektion auftreten und mindestens zwei Monate lang anhalten. Zu den Symptomen zählen Müdigkeit, Kurzatmigkeit, kognitive Störungen und viele weitere Symptome, die nachweislich die Lebensqualität beeinträchtigen.  

Die Symptome können neu auftreten oder seit der COVID-19-Infektion anhalten und können nicht auf eine andere Diagnose zurückgeführt werden. Das PCS kann alle Organsysteme betreffen, einschließlich Herz, Lunge, Nieren, Milz, Leber, Bauchspeicheldrüse, Immunsystem, Magen-Darm-Trakt, neurologisches System, Blutgefäße sowie männliches und weibliches Fortpflanzungssystem. Diese multisystemische Auswirkung erschwert die Forschung erheblich. Die Prävalenz des PCS in der europäischen Bevölkerung wird von mehreren individuellen und Umweltfaktoren beeinflusst. Hinsichtlich individueller Faktoren ist die Prävalenz bei Frauen, in der Altersgruppe von 25 bis 69 Jahren und bei Personen, die wegen einer SARS-CoV-2-Infektion hospitalisiert wurden, am höchsten. Auch sozioökonomische Faktoren spielen eine Rolle, wobei Bewohnende benachteiligter Gebiete, wirtschaftlich inaktive Personen und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen stärker betroffen zu sein scheinen. Auf der anderen Seite scheint die Impfung das Risiko einer PCS-Erkrankung um 15 % bis 50 % zu senken. 

Das Post-COVID-Syndrom – auch bei leichten oder symptomlosen Verläufen ein Problem 

Das PCS tritt auch bei Personen auf, bei denen die ursprünglichen Symptome während der akuten Phase mild waren: So können sich während der akuten Phase der Infektion lediglich leichte Symptome wie Husten, Müdigkeit oder leichte Atembeschwerden zeigen, aber dennoch können Langzeitfolgen wie anhaltende Müdigkeit, Gedächtnisproblemen, Muskelschwäche oder Atemproblemen auftreten. Dies unterstreicht die Komplexität und das vielfältige Erscheinungsbild des PCS, das weiterhin erforscht wird, um besseres Verständnis und angemessene Unterstützung für alle Betroffenen zu ermöglichen. 

Aktueller Stand des Wissens über die Krankheit  

Derzeit sind eine Reihe verschiedener Ursachen für das PCS bekannt, darunter: Persistenz des Virus im Körper, Überreaktion (Hyperinflammation) des Immunsystems, mitochondriale Dysfunktion, dysfunktionale neurologische Signalübertragung, Befall des autonomen Nervensystems, endotheliale Dysfunktion, Gerinnungsstörungen oder vaskuläre Schäden. Ein besseres Verständnis der Ursachen des PCS ist entscheidend für die Entwicklung einer optimalen Behandlung und Betreuung der Patientinnen und Patienten.  

Pflege und Behandlung von Patientinnen und Patienten  

Personen, die vom PCS betroffen sind, sehen sich häufig mit Skepsis in ihrem Familien- und Arbeitsumfeld konfrontiert. Zudem wird das PCS oft auch von Ärztinnen und Ärzten nicht erkannt. Da es bisher keine klaren Diagnostik-Biomarker für die routinemäßige Diagnose gibt, stützt sich die Diagnose des PCS derzeit vorwiegend auf klinische Untersuchungen (Hallek et al., DÄB Int 2023; 120: 48-55; DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0409). Die Behandlung des PCS ist oft kostspielig und komplex. Das therapeutische Management des PCS ist derzeit individuell und symptomorientiert. Aufgrund des begrenzten medizinischen Wissens erhalten Patientinnen und Patienten mit PCS leider manchmal nicht angemessene, bisweilen sogar schädliche Behandlungen. 

Überprüfung verschiedener Therapieansätze in klinischen Studien 

PCS ist ein komplexes Krankheitsbild, für das derzeit noch keine spezifischen Therapiemöglichkeiten existieren. Es gibt keine eindeutigen molekularen oder molekularen Diagnosemarker. Deshalb werden klinische Kriterien zur Diagnosestellung des PCS benutzt (https://www.who.int/publications/i/item/WHO-2019-nCoV-Post_COVID-19_condition-Clinical_case_definition-2021.1), die nicht immer trennscharf sind. Patientinnen und Patienten mit PCS stehen oft unter einem sehr hohen Leidensdruck stehen. In dieser Situation ist es umso wichtiger, dass sowohl die Diagnosestellung und die daraus folgenden Therapieempfehlungen reflektiert und kritisch erfolgen, sowie gut dokumentiert und wissenschaftlich überprüft werden. Dies bedeutet zugleich, dass jeder neue Therapieansatz im Rahmen von klinischen Studien geprüft werden sollte. Nur so kann beurteilt werden, ob eine Verbesserung der Symptome erreicht wird. Letztlich kann nur durch eine solide wissenschaftliche Wissensbasis ein Angebot an wirksamen Therapieoptionen für Patienten mit PCS erarbeitet werden. Hierfür ist die Zusammenarbeit aller Ärztinnen und Ärzte erforderlich. 

Schlussfolgerungen und Empfehlungen  

  • PCS ist eine schwere somatische Krankheit mit biologischen Ursachen. Es handelt sich nicht um eine psychosomatische Krankheit. 
  • Beim PCS können verschiedene Ursachen im Prinzip alle Organsysteme der Patientinnen und Patienten beeinträchtigen. Die häufigsten Symptome sind extreme Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Kurzatmigkeit, kardiovaskuläre Probleme und Konzentrationsschwierigkeiten. PCS ist auch durch eine Belastungsintoleranz gekennzeichnet, was bedeutet, dass körperliche oder geistige Anstrengungen oder Stress die Symptome verschlimmern. 
  • Beim PCS handelt es sich um eine chronische Erkrankung, die sich über mehrere Monate oder Jahre hinzieht, wobei die Rekonvaleszenz durch Schwankungen mit Rückfallphasen gekennzeichnet ist. 
  • Die wichtigsten Prävalenzfaktoren für das PCS sind das weibliche Geschlecht, die Altersspanne (25-69 Jahre) und Krankenhausaufenthalte nach einer Infektion mit SARS-CoV-2. Es ist unstrittig, dass auch Impfstoffe Komplikationen verursachen können. Es ist aber sehr gut dokumentiert, dass die Impfung gegen COVID-19 vor der Entwicklung eines PCS schützt. 
  • Die Ursachen des PCS sind vielfältig. Als Hauptursachen gelten eine Schädigung des Gefäßendothels, eine Überaktivierung des Immunsystems und/oder Viruspersistenz. Es bedarf dringend weiterer Forschung, um die jeweiligen Ursachen und ihr Zusammenwirken besser zu verstehen. 
  • Die derzeitige Behandlung des PCS ist nicht kurativ, sondern symptomorientiert (individuelle multimodale rehabilitative Behandlungen). Eine Reihe von Arzneimitteln befindet sich in der klinischen Prüfung.

Quellen

https://www.bmj.com/content/376/bmj.o158. BMJ 2022; 376:o158  

Baraniuk C., Covid-19: How Europe is approaching long COVID, 20 January 2022, WHO, A clinical case definition of post COVID-19 condition by a Delphi consensus, 6 October 2021  

https://www.who.int/publications/i/item/WHO-2019-nCoV-Post_COVID-19_condition-Clinical_case_definition-2021.1 

Davis, H.E., McCorkell, L., Vogel, J.M. et al. Long COVID: major findings, mechanisms and recommendations. Nat Rev Microbiol 21, 133– 146 (2023). https://doi.org/10.1038/s41579-022-00846-2

Politico, Collis H., WHO urges action as 17M long COVID cases estimated in Europe region, 13 September 2022, www.politico.eu; See also the study published in the International Journal of Infectious Diseases, Characteristics of long-COVID among older adults: a cross-section study, Vered Daitch, 30 September 2022, https://www.ijidonline.com/article/S1201-9712(22)00535-5/fulltext

Vita

Prof. Dr. Clara Lehmann: 

Prof. Dr. Clara Lehmann ist eine renommierte Forscherin im Bereich der klinischen Infektiologie. Aktuell ist Prof. Lehmann als Oberärztin in der Klinik I für Innere Medizin an der Uniklinik Köln tätig. Dort leitet sie die interdisziplinäre Post-COVID-Ambulanz, die sich auf die Versorgung von Patienten mit Long COVID spezialisiert hat. Ihre Arbeit umfasst nicht nur die direkte Betreuung der Patienten, sondern auch die Durchführung wissenschaftlicher Projekte und klinischer Studien zum Thema Long COVID.  

Prof. Lehmann ist bestrebt, das Verständnis dieser neuen Erkrankung zu erweitern und innovative Ansätze zur Verbesserung der Behandlung und Betreuung von Patienten zu entwickeln. Ihre Beiträge zur medizinischen Forschung und ihre engagierte Arbeit in der Patientenversorgung machen sie zu einer gefragten Persönlichkeit in ihrem Fachgebiet. 

Prof. Dr. Michael Hallek: 

Prof. Michael Hallek ist Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Universitätsklinik Köln, Direktor des Centrums für Integrierte Onkologie CIO Köln sowie Sprecher des NCT West. Die wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen bei Herrn Prof. Hallek in der Erforschung der molekularen Pathogenese der CLL und der Entwicklung zielgerichteter Therapien, um die Prognosen der CLL nachhaltig zu verbessern. Herr Prof. Hallek ist seit Dezember 2022 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer sowie seit Februar 2023 Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege.  

Prof. Hallek setzt sich mit großem Engagement dafür ein, dass die Komplexität der Erkrankung des Post-COVID-Syndroms angemessen berücksichtigt und die Erforschung des Syndroms sowie neuartiger Behandlungsansätze gefördert wird. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wurde im Januar 2022 der Arbeitskreis Post-COVID-Syndrom des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer eingerichtet. Zusammen mit Vertreter:innen verschiedener Fachbereiche der Medizin, leitete Herr Prof. Hallek den Arbeitskreis federführend. In der resultierenden Stellungnahme Post-COVID-Syndrom wurden die Themen zur Verbesserung der Datenlage zum Post-COVID-Syndrom, zur Prävention, Versorgung von Betroffenen und Information der Bevölkerung behandelt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen.