Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Prof. Dr. Bernhard Schieffer

Das Post-COVID-Syndrom und aktuelle Strukturprobleme 

Post COVID stellt Medizin und Wissenschaft, aber auch das Gesundheitswesen vor Herausforderungen der besonderen Art. In einem Gastbeitrag beschreibt Prof. Dr. Bernhard Schieffer die Problematik der aktuell oft noch fehlenden evidenzgesicherten Methoden zur Diagnostik und Therapie und gibt einen Ausblick auf die Zukunft. 

Veröffentlicht am 12.07.2023

Porträtfoto Prof. Dr. Bernhard Schieffer

© Copyright: Prof. Dr. Bernhard Schieffer

SARS-CoV-2-Infektionen verursachen unabhängig vom Verlauf in ca. 5 Prozent der Fälle ein Post-COVID-Syndrom (PCS). Ein Teil der Patientinnen und Patienten mit PCS erfüllt die Diagnosekriterien für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). Mit stetig steigender Zahl an SARS-CoV-2-(Re-)Infektionen deutschlandweit muss mit einem weiteren Zuwachs der Fallzahlen auch im Winter 2023/2024 gerechnet werden. Die aktuell fehlenden evidenzgesicherten Methoden zur Diagnostik und Therapie wie auch die fehlenden regionalen Anlaufstellen stellen eine komplexe Herausforderung für uns Mediziner und das Gesundheitswesen dar. Das viele Organsysteme betreffende und oft auch Arbeitsfähigkeit und Alltagsbewältigung einschränkende Post-COVID-Syndrom erfordert eine effektive Vernetzung und Stärkung hausärztlicher, fachärztlicher, stationärer und rehabilitativer Ressourcen. Eine solche intersektorale Integration mit Aufbau ambulanter Schwerpunktpraxen und universitärer Kompetenzzentren ist bisher erst in Ansätzen erkennbar. Diese Notlage durch den fehlenden Aufbau adäquater Versorgungsstrukturen zu ändern und Prävention und Therapie des PCS durch effektive Forschung voranzubringen dürfte zu den wichtigsten gesundheitspolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre zählen. Auch wenn es viele nicht hören wollen, so erwarten wir die Pandemie nach der Pandemie. 

Welche Symptome stehen im Vordergrund?

Das PCS ist mit einer Vielfalt von über 100, alle Organsysteme betreffenden Symptomen, klinisch äußerst heterogen. In der Häufigkeit führend sind dabei Fatigue, Belastungsintoleranz, Anosmie, Dysgeusie, Dyspnoe, Schlafstörungen, Schmerzen und kognitive Dysfunktion. Long COVID (LC), das Post-COVID-Syndrom (PCS) und das Postvaccinationssyndrom (PVS, postVAC, Post-COVID-Symptomatik nach Impfung) sind definiert als anhaltende oder neu auftretende, die Alltagsaktivitäten beeinträchtigende, anderweitig nicht erklärbare Beschwerden. Während LC ein Überbegriff für vier Wochen nach der Infektion noch persistierende Symptome ist, hat die WHO das PCS als auch noch nach drei Monaten nach Ausbruch der COVID-19-Erkrankung persistierende Symptome definiert, die mindestens zwei Monate anhalten, nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können und sich auf das Alltagsleben auswirken. Das oft dominierende Symptomcluster aus Fatigue, Belastungsintoleranz und kognitiver Dysfunktion steht bei den meisten Patienten und Patientinnen im Vordergrund. Gefolgt wird dieser Symptomkomplex von Kreislaufregulationsstörungen und den teils schwersten Verläufen von ME/CFS. Periphere Nervenschädigungen stellen den dritten großen Symptomenkomplex dar, der teilweise einer Polyneuropathie bzw. einer Muskeldystrophie ähneln kann. Biomarker für die verschiedenen Untergruppen des Post-COVID-Syndroms müssen rasch erforscht und Therapieoptionen in klinischen Studien geprüft werden.  

Schlüsselsyndrome des PCS: Fatigue, Orthostatische Intoleranz, Belastungsintoleranz, postexertionelle Malaise

  • Fatigue ist eines der am häufigsten auftretenden Symptome und bezeichnet nicht einfach „Müdigkeit“, sondern eine zu den vorausgegangenen Belastungen unverhältnismäßige, durch Schlaf nicht zu beseitigende Erschöpfung, die sowohl körperlicher als auch geistiger Art sein kann. Bei manchen PCS-Verläufen, insbesondere bei ME/CFS, geht die Fatigue regelhaft mit Schlafstörungen einher – dennoch liegt hier meist keine depressive Symptomatik vor, was sich an dem meist erhaltenen Antrieb und der hohen Motivation zur Krankheitsbewältigung zeigt.
  • Bei der häufig auftretenden Orthostatischen Intoleranz (OI) liegt wahrscheinlich eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems (Dysautonomie) vor. Kernmerkmal der OI ist eine Symptomverschlechterung beim Aufrichten und entsprechende Besserung beim Hinlegen. Zu den Symptomen gehören Benommenheit, Schwindel, Synkopen und Tachykardie, aber auch Fatigue, Kopfschmerzen, Angstzustände, Herzschmerzen, Dyspnoe und Belastungsintoleranz.   
  • Die Mehrheit der PCS-Fälle mit Fatigue ist zudem von einer Belastungsintoleranz geprägt, einer in Folge oft nur leichter körperlicher oder mentaler Belastung inadäquaten Reaktion (wie Zunahme der Fatigue, Dyspnoe, überschießende Tachykardie, Schwindel). Die Zunahme der Beschwerden nach leichter körperlicher oder geistiger Belastung wird als postexertionelle Malaise (post exertional malaise, PEM) bezeichnet.  Das vorrangige Problem bei PEM ist also nicht die mangelnde Belastbarkeit (die Betroffenen können sich je nach gesundheitlichem Ausgangszustand teilweise sogar kurzzeitig normal belasten), sondern die davon ausgelöste Verschlimmerung ihrer Krankheitssymptomatik. Letztere setzt oft erst nach einer Zeitverzögerung von mehreren Stunden oder am Folgetag ein und ist auch Stunden nach Belastung noch spürbar und hält oft mehrere Tage (bis Wochen) an. Auslöser können dabei sowohl körperliche oder kognitive als auch emotionale, sensorische oder orthostatische Belastungen sein. PEM kann in leichterer Ausprägung bei verschiedenen Formen des PCS auftreten. Durchgängig und in oft schwerster Ausprägung und über mindestens 14 Stunden anhaltend ist PEM jedoch das Kardinalsymptom von ME/CFS (hier gehört PEM zu den obligaten klinischen Diagnosekriterien). 

Gibt es Hinweis zur Ursache von Post COVID?

Die SARS-CoV-2-Infektion führt oft zu einer starken und länger anhaltenden Immunaktivierung und anhaltender Entzündungsreaktion mit erhöhten Spiegeln von Interferonen und Zytokinen bei PCS im Vergleich zu Genesenen sowie aktivierten T-Zellen und myeloischen Zellen (teilweise mehr als sechs Monate nach COVID-19), ohne dass eine virale Replikation stattfindet. Andere Studien liefern Hinweise auf endotheliale Dysfunktion und beeinträchtigte Mikrozirkulation beim PCS, die wiederum Durchblutungsstörungen mit verminderter Gewebe-Oxygenierung (Sauerstoffversorgung) verursachen kann. Welche Rolle dabei die Bindung des S1-Proteins an Endothelzellen sowie eine über den Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptor (AT1R) vermittelte, proinflammatorisch wirkende Dysbalance im Renin-Angiotensin-System (RAS) spielen könnte, wird derzeit untersucht. 

Auch erhöhte Konzentrationen des potenten Vasokonstriktors Endothelin-1 (ET-1) wurden festgestellt. Eine Reaktivierung bestimmter Autoantikörper gegen Herpes-Viren​, insbesondere gegen das Epstein-Barr-Virus (EBV),​ ​​werden bei PCS beobachtet. Ebenso wurden Autoantikörper gegen Zytokine, Chemokine, Komplementkomponenten und neuronale Strukturen ​bei Betroffenen mit PCS ​beschrieben. Die möglichen Mechanismen des Postvakzinierungssyndroms sind allerdings bislang wenig untersucht und noch unklar. Aus diesem Grund ist die Diagnostik des PCS aufgrund seiner klinischen und pathogenetischen Vielfalt eine Herausforderung.  

Dementsprechend schwer ist es auch, einheitliche Leitlinien zur Therapie zu erstellen. Die AWMF-Long-COVID-Leitlinie empfiehlt wegen der therapeutischen Relevanz sowohl beim Vorliegen einer Post-COVID-Fatigue als auch beim Vorliegen einer OI-Symptomatik einen Orthostasetest (z. B. Schellong-Test bzw. 10-Minuten-Anlehntest). Dieser dient insbesondere dem Nachweis bzw. Ausschluss einer Orthostatischen Hypotension (OH) (gekennzeichnet durch einen Blutdruckabfall innerhalb von drei Minuten dem Aufrichten von systolisch > 20 mmHg und/oder diastolisch > 10 mmHg) sowie eines Posturalen Tachykardiesyndroms (POTS). Bei Letzterem kommt es innerhalb von zehn Minuten nach dem Aufrichten zu einem anhaltenden Pulsanstieg von > 30/Minute (bei Kindern und Jugendlichen: > 40/Minute) oder aber, definitionsabhängig, zu einer anhaltenden Herzfrequenz von > 120/Minute.  

Je länger eine Fatigue im Rahmen des PCS persistiert (z. B. drei Monate bei Kindern und Jugendlichen, sechs Monate bei Erwachsenen) und je länger eine damit verbundene PEM nach Belastung andauert, desto dringlicher sollte dem Verdacht auf ein ME/CFS nachgegangen werden. Diese, im ICD-10 Erkrankung des Nervensystems (G93.3) kodiert, ist als eine der schwerwiegendsten und komplexesten Diagnosen des PCS-Spektrums, die häufiger auftritt, ohne dass es bislang zuverlässige epidemiologische Daten gibt. Es wird deshalb erwartet, dass die präpandemische Prävalenz des ME/CFS von etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung innerhalb der nächsten Jahre deutlich zunimmt.  

Die Therapie des PCS – wo stehen wir im Sommer 2023?

Derzeitige medikamentöse Kandidaten für die experimentelle Behandlung von PCS und/oder ME/CFS „off-label“ sind beispielsweise Antihistaminika, niedrig dosiertes Naltrexon (low dose naltrexone, LDN) und niedrig dosiertes Aripiprazol. Daneben zeigen erste Studien und Fallserien, dass hyperbare Sauerstofftherapie und eine Blockade des Ganglions stellatum bei PCS und ME/CFS wirksam sein können. Bislang nur in kleinen Studien geprüfte immunmodulatorische Ansätze beinhalten die Behandlung mittels Immunadsorption und werden aktuell in klinischen Studien getestet, Immunglobuline können bei therapieresistenten Myokarditiden eingesetzt werden. Noch zu prüfende Konzepte, für die es bisher nur Fallberichte gibt, sind unter anderem das Aptamer BC007, die HELP-Apherese, die Plasmapherese und das perispinale Etanercept. Aufgrund der Vielzahl von sich rasch verändernden Therapieansätzen hat diese Zusammenfassung keinen Anspruch auf Vollständigkeit, jedoch ist festzuhalten, dass den meisten Therapieansätzen häufig eine randomisierte klinische Prüfung fehlt.  

Bedeutung von Post COVID für das Gesundheitswesen

Im Zentrum der Versorgung sollte die intersektorale bzw. sektorenübergreifende und interdisziplinäre Behandlung stehen. Erstuntersuchung, Planung und Ablauf der Diagnostik und Therapie sollten über die primärversorgenden Haus- bzw. Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte gesteuert werden. Regionale Schwerpunktpraxen, die mit den primärversorgenden Praxen eng assoziiert sind (so wie es bspw. im Landkreis Marburg-Biedenkopf langjährig erprobt wurde), sind einerseits dezentrale Kompetenzzentren und haben andererseits einen direkten Zugang zur jeweiligen universitären Spezialambulanz. Die Hauptaufgabe der universitären Schwerpunktzentren sind die Forschung und Durchführung klinischer Studien. Durch deren Vernetzung würde die Expertise, wie etwa die in Marburg oder an der Charité bestehende Studienplattform, für andere nutzbar gemacht und klinische Studien standardisiert werden können.   

Komplettiert wird der Kreis der Versorgungsstrukturen durch ambulante oder stationäre Rehabilitationseinrichtungen, die auf Zuweisung durch die fachärztlichen Schwerpunktpraxen oder universitären Spezialambulanzen die Mitbehandlung entsprechend der jeweils neuesten Version der AWMF-S1-Leitlinie übernehmen. Bei der Indikation zu Rehabilitationsmaßnahmen können institutions- und fachgebietsübergreifende digitale Fallkonferenzen unterstützen, insbesondere wenn die (Verdachts-)Diagnose ME/CFS gestellt wurde. Ein großer Fokus sollte auf die flächendeckende und strukturierte Behandlung von jungen Menschen mit postviralem ME/CFS gelegt werden.  

Telefonische und telemedizinische Weiterbetreuung und Nachsorgeprogramme können nach Diagnosestellung oder auch nach stationären Behandlungsmaßnahmen die nachhaltige, heimatnahe Umsetzung der Therapieempfehlungen erleichtern. In besonders schweren Fällen muss die Behandlung ausschließlich oder überwiegend aufsuchend oder telefonisch/telemedizinisch erfolgen. Die interdisziplinäre Kompetenz der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) ist dabei gemäß eigenen Erfahrungen außerordentlich hilfreich. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang, klassische Fortbildungsformate, Webinare und Web-App-Plattformen zu etablieren, die als Kommunikationsplattformen dienen, um bundesweit den Zugang zu den neuesten Therapieoptionen zu ermöglichen und so der Wissenschaftlichkeit in der Therapieführung die Hoheit zu sichern. Zentral für all diese Aufgaben und Angebote ist eine nachhaltige Finanzierung eines solchen intersektoralen Betreuungskonzeptes. Speziell vergütete Hochschulambulanztarife sind für die multidisziplinäre Betreuung in den universitären Ambulanzen wie im niedergelassenen Bereich notwendig.  

Aktuelle Versorgungsprobleme von PCS, PostVAC und ME/CFS

Die etablierten Versorgungsstrukturen können derzeit eine effektive Diagnostik, Therapie und Betreuung des PCS nicht abdecken. Die Belastung bei den Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzten ist hoch, Wartezeiten bei fachärztlichen Versorgungszentren und universitären Spezialambulanzen sind lang, nicht selten verzögert sich dadurch die Diagnosestellung. Diese Situation erhöht nach derzeit plausiblen Modellen das Risiko von vermeidbarer Chronifizierung und psychosozialen Folgeschäden. Neben Anlaufstellen für das PCS fehlt es derzeit aber auch an Kompetenzzentren für Menschen mit einem möglichen PVS (wie beispielsweise der Post-COVID-/PostVAC-Ambulanz in Marburg). Ein weiteres ungelöstes Problem ist die unzureichende Vergütung der aufwändigen Versorgung des PCS auf allen Ebenen. Aktuell werden viele Post-COVID-Einrichtungen im Rahmen von Forschungsprojekten kofinanziert. 

Zum Dritten fehlen bislang ausreichend spezialisierte, tertiäre interdisziplinäre Versorgungsstrukturen, insbesondere im Bereich der Hochschulambulanzen, die über die Versorgungsforschung und Therapiestudien hinaus auch die Schnittstelle zur translationalen und Grundlagenforschung gewährleisten können. Mindestens ein ausreichend ausgestattetes spezialisiertes universitäres Post-COVID-Netz sollte für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit PCS und/oder ME/CFS in jedem Bundesland verfügbar sein. Der Aufbau einer digitalen Patientenakte wäre nicht nur für die Kontinuität in der Betreuung der Patientinnen und Patienten sowie für Forschungszwecke hilfreich, sondern würde auch eine Ressourcenoptimierung durch Vermeidung von Doppeluntersuchungen und unnötigen Terminanfragen bedeuten. 

 

Veröffentlicht am 12.07.2023

Vita

Prof. Dr. Bernhard Schieffer ist an der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Intensivmedizin des Universitätsklinikums Marburg (UKGM) tätig. Geboren 1964 in Kaiserslautern, aufgewachsen in Homburg/Saar, Studium in Saarbrücken und Freiburg. Klinisch-wissenschaftliche Ausbildung in Freiburg, Atlanta/USA (als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft) und Hannover. Wurde 2004 zum Leitenden Oberarzt an der Medizinischen Hochschule in Hannover ernannt, 2012 Berufung auf den Lehrstuhl der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Intensivmedizin und Direktor des Zentrums für Notfallmedizin des Universitätsklinikums Marburg (UKGM). Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin. Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Fachgesellschaften, Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Suisse National Fond, des INSERM/Paris und Wellcome Trust/UK. Über 200 Publikationen in nationalen und internationalen Zeitschriften. Er beschäftigte sich bereits im Rahmen seiner Promotion 1992 und anschließenden Habilitation 2000 mit der Bedeutung des sog. Renin-Angiotensin-Systems in Bezug auf Gefäßprozesse, einem Hormonsystem, über das die Infektion mit dem Coronavirus, insbesondere das Spikeprotein, und auch die COVID-19-Impfung ihre Wirkung vermitteln.